Die grosse Preview von Gastautor Pascal Keel
271 Spiele gespielt. 1’315 Touchdowns erzielt. 1’297 Sacks gesetzt. Die 2022 Regular-Season der NFL hatte es in sich – jetzt geht’s ans Eingemachte: Die NFL-Playoffs sind da. Aus 32 Teams wurden 14. Die jeweiligen Nummer-1-Seeds Philadelphia Eagles (NFC) und Kansas City Chiefs (AFC) haben eine Woche Pause. Die restlichen zwölf Franchises kämpfen am Wochenende im Rahmen des Super-Wild-Card-Weekends um einen Platz unter den letzten acht. Sechs Spiele an drei Tagen. Sowohl in der NFC als auch in der AFC versprechen spannende Paarungen reichlich Spektakel. Das sind die Storylines der Wild-Card-Runde 2023.
Samstag 22.30 Uhr: Seattle Seahawks @ San Francisco 49ers
Zum Auftakt des Super-Wild-Card-Wochenendes gastieren die Seahawks aus Seattle am Samstag in Santa Clara bei den San Francisco 49ers. Die Mannschaft von Trainer Pete Caroll darf dank Schützenhilfe der Detroit Lions, die am Montagmorgen den Green Bay Packers die Playoff-Party vermiesten, nach einjähriger Pause wieder Playoff-Football spielen.
Unverhoffter Leistungsträger der Saison war dabei Geno Smith: Die Karriere des 32-jährigen Quarterbacks und ehemaligen Zweitrundenpicks der New York Jets wurde längst als Enttäuschung abgestempelt, als er im Sommer die Position von Star-Quarterback Russell Wilson erbte, der zu den Denver Broncos wechselte. Während Wilson bei seinem neuen Arbeitgeber nur wenig bis gar nichts auf die Reihe bekam, spielte Geno Smith in Seattle wider aller Erwartungen gross auf, stellte zahlreiche Franchise-Rekorde seines Vorgängers ein und verhalf den Seahawks zu einer positiven Bilanz und zum Einzug in die Playoffs. Eine Feel-Good-Story wie aus dem Bilderbuch.
Dumm nur, dass ihnen in der Wild-Card-Round die brandheissen 49ers gegenüberstehen, bei denen sich ebenfalls gerade eine Cinderella-Story abspielt: Brock Purdy ist der erste Rookie-Quarterback seit Ben Roethlisberger (2004), der sämtliche seiner ersten fünf Spiele gewinnen konnte. Das Kuriose daran: Brock Purdy wurde im letztjährigen Draft an allerletzter Stelle gedraftet und ist somit Mr. Irrelevant – oder war es zumindest. Weil sich zunächst Starter Trey Lance und dann auch Ersatz Jimmy Garapollo im Verlauf der Saison verletzten, stand gegen Bradys Buccaneers in Woche 14 plötzlich der 23-jährige Purdy unter dem Center. Purdy brillierte – und dies nicht nur gegen die Buccaneers. Seit Woche 14 hat kein Quarterback in der NFL ein höheres Passer-Rating als Purdy (119.0), nicht einmal MVP-Garant und Superstar Patrick Mahomes (114).
Can you believe this?
Brock Purdy, Mr. Irrelevant, leads the NFL in touchdown passes (11), yards per attempt (8.9) and passer rating (119.0) since his 1st career start in Week 14.
Holy smokes— Doug Clawson (@doug_clawson) January 9, 2023
Auch im direkten Divisions-Duell gegen die Seahawks in Woche 15 weiss Purdy mit zwei Touchdowns und einer Completion-Percentage von 65 Prozent zu überzeugen. Einen nicht ganz unwichtigen Anteil an Purdys Glanzzahlen hat zweifellos auch das fein geölte Offensivbollwerk von Kyle Shanahan’s 49ers um Grössen wie Christian McCaffrey, George Kittle oder Trent Williams. Ausserdem verfügen die 49ers über die statistisch beste Defensive der Liga. Beste Voraussetzung also für ein Fortsetzung von Purdys Cinderella-Story, oder ist es dann doch Geno Smiths Märchen, das ein weiteres Kapitel erhält?
Sonntag 02.15 Uhr: Los Angeles Chargers @ Jacksonville Jaguars
Trevor Lawrence ist endlich angekommen in der NFL. Nach einer durchwachsenen 2021-Kampagne mit Skandal-Trainer Urban Meyer scheint der 23-jährige Quarterback der Jacksonville Jaguars sein Potenzial unter dem neuen Coach Doug Pederson endlich ausschöpfen zu können. In 17 Spielen wirft er über 4000 Yards und 25 Touchdowns und führt die Jaguars unter anderem zu einer fulminanten Aufholjagd mit vier Siegen in Folge gegen Ende der Saison.
Im alles entscheidenden Thriller um den Divisionssieg gegen die Tennessee Titans vergangene Woche war es dann aber seine Defense, die den ersten Playoff Einzug seit 2017 mit einer Interception und einem eroberten Fumble klar machte. 2017 schafften es die Jaguars überraschend bis ins AFC-Championship-Spiel, wo sie den New England Patriots, damals noch mit Tom Brady, nur knapp mit 20-24 unterlagen. Können es Jaguars-Fans dieses Jahr dank Trevor Lawrence gar wagen, von einem Super Bowl zu träumen?
Die erste grosse Hürde stellen die Los Angeles Chargers um Quarterback Justin Herbert. Der im 2020 Draft an sechster Stelle ausgewählte Herbert zählt zur Spitze der Liga. Gemessen wird er allerdings immer noch mit Bengals Quarterback Joe Burrow, der einst im gleichen Draft vor ihm gezogen wurde und sein Team im letzten Jahr in den Super Bowl führte. Ein solches Resümee kann Herbert bislang noch nicht vorweisen. Nachdem Herbert und die Chargers 2020 und 2021 zwei Mal leer ausgingen, stehen sie dieses Jahr als fünftbestes Team der AFC in der Wild-Card-Runde.
Die Bausteine für einen Playoff-Run stehen Herbert reichlich zur Verfügung: Star-Receiver Keenan Allen und Mike Williams sind wieder fit, Running Back Austin Ekeler so heiss wie selten, und die Defense scheint sich nach Anfangsschwierigkeiten während der Saison langsam gefangen zu haben. Alles ist angerichtet für das Duell zwischen zwei der vielversprechendsten Spielmacher der Liga.
Sonntag, 19.30 Uhr: Miami Dolphins @ Buffalo Bills
Acht Minuten lang musste Bills Safety Damar Hamlin vor eineinhalb Wochen auf dem Feld wiederbelebt werden, nachdem er im Spiel gegen die Bengals am Ende des ersten Viertels kollabiert war. Die NFL war in Schockstarre. Lange bangte man um den Zustand des 24-Jährigen. Gegen Ende Woche dann eine gute Nachricht nach der anderen: Hamlins Zustand ist stabil – Hamlin ist wach – Hamlin ist ansprechbar – Hamlin redet. Und am NFL-Sonntag dann: Hamlin springt auf und ab. Laut Ärzten des University of Cincinnati Medical Center sei Hamlin ganz ausser Rand und Band gewesen und habe sämtliche Notfallalarme ausgelöst, als er zusah, wie der Kickoff zum Spiel seiner Bills gegen die Patriots von Teamkollege Nyheim Hines für einen 101-Yard-Touchdown zurückgetragen wurde.
Die Bills gewinnen das erste Spiel nach Hamlins Verletzung mit 35-23. Ein Happy End so kitschig, dass man sich beinahe fragen muss, ob die NFL-Drehbuch-Autoren diesmal nicht zu weit gegangen sind.
We’ve paid our dues, now it’s time to reap our destiny.
There’s only one thing left to do.@DDawkins66 | @Zippo pic.twitter.com/fTZLltKaaU
— Buffalo Bills (@BuffaloBills) January 13, 2023
Die Buffalo Bills scheint nichts mehr aus der Bahn bringen zu können und das Happy End um Hamlin wird das Team nur noch mehr zusammengeschweisst haben. Auch die Wettbüros stimmen zu: Sie attestieren den Buffalo Bills nach den Kansas City Chiefs die höchste Super-Bowl-Chance. Auf das vielleicht beste Quarterback-Receiver Duo der Liga mit Josh Allen und Stefon Diggs warten am Sonntag die Miami Dolphins, die ihrerseits den siebten und letzten Playoff-Platz dem Bills-Sieg über Divisionsrivale Patriots am letzten Spieltag verdanken. Die Dolphins stehen dabei vor einer regelrechten Mammutaufgabe.
Alles darauf hin, dass Rookie Skylar Thompson am Sonntag den Flügel-Flitzern Tyreek Hill und Jaylen Waddle den Ball zuwirft. Der eigentliche Starter Tua Tagovailoa zog sich Woche 17 die bereits dritte Gehirnerschütterung der Saison zu. Ginge es nach zahlreichen Promi-Ärzten in den USA, steht Tua nicht mehr auf einem Football-Feld in dieser Postseason – einige raten dem erst 24-jährigen Hawaiianer gar, die Nockenschuhe ganz an den Nagel zu hängen. Am Mittwochmorgen gaben die Dolphins dann bekannt, dass sich Tua noch nicht ausreichend von seinem Hirntrauma erholt hat. Weil auch Ersatz-Quarterback Teddy Bridgewater mit einer Gehirnerschütterung ausfällt, kommt Skylar Thompson zu seinem dritten NFL-Einsatz von Beginn an. Thompson konnte zuletzt allerdings keine Statistiken à la Brock Purdy aus dem Hut zaubern. Das letzte Mal, als die Dolphins die Runde der letzten Acht erreichten, war Thompson gerade mal zwei Jahre alt (Saison 2000). Schaffen die Dolphins die Sensation?
Sonntag 22.30 Uhr: New York Giants @ Minnesota Vikings
Rookie-Head-Coach Brian Daboll hat es geschafft, die New York Giants trotz glanzlosem Kader aus einer langjährigen Lachnummer in eine Playoff-Mannschaft zu transformieren. Es scheint, als fühle sich Quarterback Daniel Jones endlich wohl: Er warf nur fünf Interceptions diese Saison – Tiefstwert unter den Starting-Quarterbacks. Zurecht wird Daboll darum von vielen Experten als COTY-Kandidat genannt. Interessant: Weder seine Offensive (Rang 15) noch seine Defensive (Rang 17) stehen dabei im ligaweiten Vergleich weit vorne. Glanzlos, dafür diszipliniert, vielleicht das perfekte Mittel? Nach sechs Jahren ohne Playoff-Football kehren die G-Men auf die grosse Bühne zurück und sind am Sonntagabend zu Gast bei den Minnesota Vikings.
Bei den Vikings zeigt sich ein völlig anderes Bild: Während die Offensive dank fulminanter Saison von Receiver Justin Jefferson im Ranking weit vorne auf Platz sieben steht, stellen die Minnesotans die drittschwächste Defensive der Liga. Eine Statistik, die sinnbildlich ist für die 2022 Vikings, über die keiner so recht weiss, wie man sie einschätzen soll. Trotz einer starken Bilanz von 13-4 trauen ihnen nämlich nur wenige eine lange Postseason zu.
In grossen Spielen hapert es: Gegen die Cowboys in Woche 11 verlieren sie mit 3:40, gegen die Green Bay Packers in Woche 17 mit 17:41. Das erklärt auch diese bizarre Rekordmarke: Sie sind das erste Team der NFL-Geschichte mit 13 Saisonsiegen und einer negativen Punktebilanz. Was allerdings für die Super-Bowl-Chancen der Vikings spricht, ist ihre Fähigkeit, enge Spiele für sich zu entscheiden: Alle elf Spiele, die mit einem Score Unterschied endeten, gingen zugunsten der Vikings aus. Darunter auch das grösste Comeback in der über hundertjährigen Geschichte der NFL in Woche 15. Damals holten Kirk Cousins und Co. einen 33-Punkte-Rückstand gegen die Indianapolis Colts auf und gewannen mit 39:36.
Es war eine Saison voller komischer Rekorde, aus denen niemand wirklich schlau wird. Können die Vikings liefern, wenn es darauf ankommt?
In case you forgot how the last Vikings-Giants game went
— Ali Siddiqui (@asiddiqui15) January 11, 2023
pic.twitter.com/b4vRecbEdw
Montag, 02.15 Uhr: Baltimore Ravens @ Cincinnati Bengals
Hätten die Baltimore Ravens am Sonntag gegen die Cincinnati Bengals gewonnen, hätte ein Münzwurf über den Austragungsort dieses Wild-Card-Spiels entschieden. Diese dubiose Massnahme war Folge des abgebrochenen Bills-Bengals-Spiels in Woche 17 durch die schwere Verletzung von Damar Hamlin. Letztendlich musste es gar nie dazu kommen: Die Bengals gewannen das Spitzenspiel in der AFC North unangetastet mit 26 zu 17 und der wohl wichtigste Münzwurf der NFL-Geschichte wurde abgewendet. Nur eine Woche später kommt es nun zum erneuten Aufeinandertreffen der Divisionsrivalen.
Das Team von Head Coach Zac Taylor will dabei an die Playoff-Erfolge der vergangenen Saison anknüpfen. Damals scheiterten die Bengals erst im Super Bowl an den Los Angeles Rams. Die Leistungsträger des Super-Bowl-Runs trumpfen auch in dieser Saison wieder gross auf: Nach holprigem Saisonstart führen «Joey Cool», alias Joe Burrow und sein Partner in Crime Ja’marr Chase das Team aus Cincinnati zu einer Bilanz von 12 Siegen zu nur vier Niederlagen. Die Schwächen in der Offensive Line scheinen repariert, die Defense zählt trotz Verletzungen zu den besten der Liga (Rang 5) und auch das Laufspiel mit Joe Mixon funktioniert. Der Weg nach Arizona scheint geebnet.
The work's not done yet. pic.twitter.com/uttSz6NeeG
— Cincinnati Bengals (@Bengals) January 12, 2023
Ihnen in als erster in den Weg stellen sich in der Nacht zum Montag die nach wie vor dezimierten Ravens. Quarterback Lamar Jackson fällt allem Anschein nach wie bereits vergangenes Wochenende verletzt aus. Wie bei den 49ers und Dolphins muss es wohl ein Ersatzes-Ersatz richten. Im Falle der Ravens ist es Anthony Brown. Nachdem dieser im Saisonfinale kaum zu überzeugen wusste, ruhen die Hoffnungen der Ravens auf ihrer Nummer-drei-Defense, allen voran Linebacker Roquan Smith. Dieser stiess im November von den Chicago Bears per Tauschgeschäft zu den Ravens und hat jüngst einen Fünfjahresvertrag mit einer jährlichen Gage von 20 Millionen unterzeichnet. Dies macht ihn zum bestbezahlten Spieler auf seiner Position. Kann die starke Defense um Smith das bengalische Offensiv-Bollwerk stoppen?
Dienstag, 02.15 Uhr: Dallas Cowboys @ Tampa Bay Buccaneers
Seit 2015 hat Tom Brady jedes zweite Jahr den Super-Bowl-Titel geholt. 2015, 2017, 2019, 2021 – kommt 2023 die insgesamt achte Vince-Lombardi-Trophäe dazu? Es hat auch schon rosiger ausgeschaut für den G.O.A.T. Zum ersten Mal in seiner 23-jährigen NFL-Karriere beendet er eine Saison mit einer negativen Bilanz (8- 9). Weil die gesamte NFC-South schwächelt in dieser Saison, reichte es trotzdem für den Einzug in die Playoffs. Hohe Siegeschancen muten ihm und seinen Tampa Bay Buccaneers gleichwohl nur wenige zu. Grund zur Zuversicht gibt den Bucs folgende Statistik: Tom Brady hat in seiner ganzen Karriere noch nie gegen die Dallas Cowboys verloren (Bilanz 7-0).
Statistik hin oder her, die Cowboys gehen als Favorit in die Partie gegen die Buccaneers. Die Cowboys spielen eine starke Saison und können eine beachtliche Bilanz von 12 Siegen zu 5 Niederlagen vorweisen. Für den Divisionssieg reichte es letzten Endes knapp nicht, dieser ging an die Philadelphia Eagles. „America’s Team“ wartet seit bald 30 Jahren auf einen Super Bowl Titel. Im letzten Jahr war nach einer ebenfalls überzeugenden regulären Saison bereits im Wild-Card-Spiel Schluss. Können die Cowboys ihren Playoff-Fluch legen und am Sonntag ihren ersten Sieg gegen Tom Brady einfahren?
Weitere Stats zum Nachschauen
Pascal Keel
Pascal Keel ist 20 Jahre alt, Student und seit drei Jahren leidenschaftlicher Football-Fan. Weil der kurze Traum der aktiven Karriere als Quarterback einst nach nur einem Probetraining bei den St.Gallen Bears aus war, verfolgt er den Sport seitdem vor allem von hinter dem Bildschirm aus. Seine Sonntagabende sind jeweils ganz für die National Football League reserviert. Neben der NFL verfolgt er auch Spiele der ELF und aus dem College-Football.
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